Charakteristika und Konzepte von Leben

Kann man Leben aus der Zusammensetzung seiner Bestandteile heraus erklären?

Welche unterschiedlichen Sichtweisen über die Entstehung von Leben gibt es?

Inwiefern ist es möglich, die ätherische Organisation als einen ganzheitlich wirkenden Gesetzeszusammenhang zu verstehen?

Unterschiedliche Sichtweisen, wie Leben entsteht

  • Sicht der Vitalisten

Vitalisten wie Paracelsus (1493/94–1541), Georg Ernst Stahl (1659–1734), Johann Friedrich Blumenbach (1752–1840) oder Hans Driesch (1867–1941) vertraten die Auffassung, dass die physischen Stoffe durch besondere Kräfte zu den Erscheinungen des Lebendigen gestaltet werden.1 Die Art und Wirkungsweise solcher Lebenskräfte blieb aber meist spekulativ und weitgehend unklar.

  • Reduktionistisch-mechanistische Sicht

Seit es 1828 dem deutschen Chemiker Friedrich Wöhler (1800–1882) gelungen war, in seinem Labor Harnstoff künstlich herzustellen, schien für viele Naturwissenschaftler erwiesen, dass Leben letztlich doch ‚machbar‘ und aus seinen materiellen Bestandteilen heraus herstell- und erklärbar sein müsse.

Steiner sah es als eine ‚verkehrte‘ Gewohnheit an, sich die Entstehung von Welt und Leben aus Atomen zusammengesetzt zu denken, anstatt – umgekehrt – die Welterscheinungen aus einem weisheitsvollen Erscheinungszusammenhang heraus zu begreifen, in den sich die Teile sinnvoll integrieren. Dazu musste man sich bemühen, von dem Ganzen in die Teile hinein zu denken.

Den Menschen fällt es schwer, von der seit vier bis fünf Jahrhunderten gepflegten Denkgewohnheit, von den Teilen auf das Ganze zu schließen, loszukommen.2 Diese reduktionistisch-mechanistische Auffassung des Lebendigen dominierte auch noch im 20. Jahrhundert, der zufolge man Organismen als genetisch programmierte ‚Überlebensmaschinen‘3 ansah.

  • Leben als sich selbst organisierendes System gesehen

Seit der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts etablieren sich jedoch zunehmend Sichtweisen, die die komplexen Lebenszusammenhänge als sich selbst organisierende Systeme auffassen.4 Dabei werden die Phänomene lebender Organismen zwar präzise beschrieben, aber es bleibt doch letztlich unklar, wodurch diese Komplexität des Organischen bewirkt wird, wer oder was dieses „Selbst“ ist, welches sich da organisiert.

  • Leben als in sich bestehende Ganzheit gesehen

Anhand des Phänomens des Todes im Unterschied zum Schlaf verdeutlichen die Autoren, dass Leben eine in sich bestehende Ganzheit darstellt – ebenso wie der Erfahrungsraum des Bewusstseins eine ist:

  • In einem toten Organismus folgen die Stoffe anderen Gesetzen
  • als sie es im Lebenszusammenhang eines schlafenden Organismus tun.

Entsprechend haben die Stoffe im toten Organismus eine andere Funktion als im lebenden – obwohl es sich um dieselben Stoffe handelt.5

Zusammenwirken ätherischer Kräfte mit stofflichen Elementen im Menschen

Rudolf Steiner und Ita Wegman entwickeln in Kapitel III von „Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst“6 eine Begrifflichkeit der ätherischen Organisation als einem ganzheitlich wirkenden Gesetzeszusammenhang. Sie beschreiben insbesondere das Zusammenwirken differenzierter ätherischer Kräfte mit den stofflichen Elementen des Organismus. Im Fokus steht dabei die Rolle der stofflichen Träger derjenigen Prozesse, durch die sich Leben physisch sichtbar manifestieren kann.

Dieses Geschehen beginnt mit der fundamentalen Tatsache, dass bei der Verdauung der Nahrungsmittel im menschlichen Organismus die Eigenheit der aufgenommenen Nahrungsmittel überwunden werden muss, damit sich die darin enthaltenen Stoffe für eine bestimmte Zeit den Gesetzmäßigkeiten des sich ernährenden neuen Organismus einfügen können (vgl. Ernährung und Verdauung: Substanzströme bei Aufbau und Abbau).7

In Abs. 4 formulieren die Autoren die Frage: „Was macht das als Wasserstoff Erscheinende im Organismus durch?“8 Bereits die Fragestellung zeigt, dass die Autoren davon ausgehen, dass Wasserstoff nach seiner Aufnahme in den Organismus und bevor er wieder ausgeschieden wird, als ‚Dienstleister‘ daran mitwirkt, die Lebenserscheinungen des Organismus physisch sichtbar zu machen.

Leben ist mehr als die Summe seiner Bestandteile

Gemäß dieser Auffassung können Stoffe Lebenserscheinungen zwar offenbaren, diese jedoch nicht konstituieren bzw. hervorbringen. Dies festzuhalten, ist den Autoren wichtig im Zusammenhang mit ihrer Auseinandersetzung mit dem Physiologen Emil Heinrich Du Bois-Reymond (1818–1896), der durch seine Reden auch in der Öffentlichkeit bekannt wurde.

  • Was Rudolf Steiner an Du Bois-Reymond hochschätzte, war die Tatsache, dass dieser die Schwelle zwischen dem sinnlich Erfahrbaren und dem nicht über die Sinne zugänglichen, übersinnlichen Bewusstseinsinhalt klar erkannte und keine Behauptungen oder Hypothesen unterstützte, die das Bewusstsein generell als Ergebnis stofflicher Wirkungen zu erklären versuchen.

  • Was er jedoch zurückwies, war Du Bois-Reymonds Annahme, dass man zwar nicht das Bewusstsein, wohl aber die Lebenserscheinungen aus den stofflichen Zusammensetzungen erklären könne.

Vgl. „Einleitung zu Band 15, Schriften zur Anthroposophischen Medizin, Kritische Edition der Schriften Rudolf Steiners“, frommann-holzboog Verlag, Stuttgart 20259

  1. Vgl. Toepfer (2011).
  2. Rudolf Steiner, Die Kunst des Erziehens aus dem Erfassen der Menschenwesenheit, GA 311, 85.
  3. Dawkins (1978).
  4. Eine ausgezeichnete Übersicht findet sich in Rosslenbroich (2023).
  5. Vgl. FN 2 Rudolf Steiner, Ita Wegman, Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst, GA 27, Kap. III: „Nicht um eine solche Fortsetzung der Wirkung, die man an dem Stoffe außerhalb des menschlichen Organismus beobachtet, handelt es sich, sondern um deren Überwindung.“
  6. Ebenda.
  7. Ebenda.
  8. Ebenda, S. 18..
  9. In Band 15 der SKA findet sich auch das umfangreiche Literatur- und Referenzverzeichnis. Wer den Inhalt weiter vertiefen möchte, kann sich dort darüber informieren.