Aspekte einer anthroposophischen Substanzkunde
Was ist unter einer geisteswissenschaftlich erweiterten Biochemie zu verstehen?
Inwiefern verhilft dieser Ansatz dazu, Materie als ‚geronnenes Licht‘ zu begreifen?
Wie lässt sich die Wirksamkeit des Potenzierens berechnen?
Welche Aspekte hinsichtlich der Qualitäten einer Substanz kommen dabei zum Tragen?
Phänomenologische ‚Kolisko’sche Chemie’
Der Arzt und ehemalige ärztliche Direktor der Weleda Deutschland, Otto Wolff (1921–2003), hat es unternommen, die anthroposophische Substanzkunde in Form einer geisteswissenschaftlich erweiterten Biochemie1 darzustellen. Er hat diese Publikation dem Wiener Arzt Eugen Kolisko (1893–1939) gewidmet, den Rudolf Steiner bei Begründung der Waldorfschule in Stuttgart für die schulärztliche Tätigkeit dorthin berufen hatte (vgl. Waldorfpädagogik: Förderlehrer und Schularzt damals und heute).
Kolisko wurde von Rudolf Steiner hochgeschätzt – in mehreren Vorträgen würdigte er ihn und die von ihm an der Waldorfschule unterrichtete phänomenologische ‚Kolisko’sche Chemie’. Wenn man die Chemie aus dem Erscheinungszusammenhang der Phänomene ableitet, die beim Verbrennen, Titrieren, Analysieren und Synthetisieren von Stoffen auftreten, können durch eine solche Art der Betrachtung der Stoffeswelt Natur- und Geisteswissenschaft in sich gegenseitig beleuchtender Weise zusammenfinden.
Anthroposophische Kosmogonie
So betrachtet, wird auch die anthroposophische Kosmogonie dem Verständnis direkt zugänglich. Bei einer Verbrennung werden Licht und Wärme frei, was unmittelbar anschaulich macht, dass das Verbrannte ursprünglich aus dieser Welt von Licht und Wärme hervorgegangen sein muss. Materie hat demnach
- ihren Ursprung in Wärme und Licht
- und wird in der Folge zu ‚flüssigem Licht‘
- und verdichtet sich zuletzt zu festem ‚kondensierten Licht’ und inkorporierter Wärme.
Dadurch wird konkret nachvollziehbar, dass die Stoffe dieser Erde jeweils in ihrem eigenen Bereich durch die folgenden vier Gesetzeszusammenhänge in sehr unterschiedlicher Weise zur Erscheinung gebracht werden, also durch:
- Thermodynamik,
- Aerodynamik,
- Hydrodynamik
- und Mechanik.
Auch wird die Thematik der Qualität von Stoffen verständlicher, wenn man begreift, dass Substanzen im Lebenszusammenhang einer Pflanze – und damit von deren Lebensgesetzen aufgebaut – eine andere Qualität haben müssen, als wenn dieselbe Stoffzusammensetzung aus dem chemischen Labor kommt. Denn die Substanz, bzw. der Stoff, wird jeweils von der Qualität geprägt, die von den Kräften bzw. Gesetzmäßigkeiten herrührt, in deren Dienst er entstanden ist (vgl. Ernährung und Verdauung: Substanzströme bei Aufbau und Abbau). Dieser Gesichtspunkt spielt auch bei der anthroposophischen Diätetik und Ernährungslehre eine wichtige Rolle.
Gesetzmäßigkeiten des Potenzierungsprozesses
Dieser Grundsatz lässt sich auch auf das Phänomen des Potenzierens in der Homöopathie und in der anthroposophischen Arzneimittelherstellung übertragen. Auch hier muss man die Gesetzmäßigkeiten begreifen, die einem solchen Potenzierungsprozess zugrunde liegen.
Georg Glöckler (1933–2019), der ehemalige Leiter der Mathematisch-Astronomischen Sektion am Goetheanum, hat einen mathematischen Ansatz zur Berechnung des Potenzierungsprozesses gefunden. Leider war es ihm zu seinen Lebzeiten nicht mehr möglich, diesen Ansatz mit daran interessierten Pharmazeuten weiter auszuarbeiten und bezüglich der anthroposophischen Arzneimittelherstellung zu konkretisieren.3 Das Studium der Fibonacci-Zahlen war für Glöckler eine Brücke zum mathematischen Verständnis des ‚Homöopathisierens’. Denn die Fibonacci-Zahlen zeigen in ihrer rhythmischen Folge ausnahmslos, dass der Prozess „stärker ist, als die Ausgangs-Zahl“ (vgl. Natur und Kosmos: Die Fibonacci-Folge in der Natur).4
In der Homöopathie wird durch den rhythmisch gegliederten Potenzierungsvorgang bei der stufenweisen Potenzierung ebenfalls eine Verstärkung und Modulierung der Wirkung der potenzierten Substanz gegenüber der jeweiligen Ausgangssubstanz hervorgerufen. Während die Ausgangssubstanz bei jedem Potenzierungsschritt weniger wird, bis sie stofflich nicht mehr nachweisbar ist, tritt die rein prozessuale Kraftwirkung, die zum Wesen dieser Substanz gehört, immer deutlicher hervor und teilt sich dem flüssigen oder festen Medium, in dem die Potenzierung vorgenommen wird, mit.5
Den aktuellen Stand der empirischen präklinischen und klinischen Forschung zur Wirksamkeit potenzierter Substanzen und den daraus resultierenden Perspektiven haben Jürg Lehmann und Stefan Baumgartner unter Berücksichtigung des anthroposophischen Substanz- und Prozessbegriffs, dargestellt – ausgehend von der Tatsache, dass in den letzten Jahren statistisch hochsignifikante Wirkungen von potenzierten Substanzen beobachtet wurden (vgl. Anthroposophische Medizin: Forschung und Weiterentwicklung).6
Vgl. „Einleitung zu Band 15, Schriften zur Anthroposophischen Medizin, Kritische Edition der Schriften Rudolf Steiners“, frommann-holzboog Verlag, Stuttgart 20257
- Wolff (2013).
- Wolffs 1998 erstmals erschienenes Werk wurde 2013 von der Ärztin und Schülerin Wolffs, Daphne von Boch, unter Mitarbeit weiterer Fachleute, für eine 2. Auflage überarbeitet. Es ist zu hoffen, dass dieser Ansatz von der nächsten Generation anthroposophischer Ärzte und Pharmazeuten weiterverfolgt und dem jeweils neuesten Stand biochemischer Forschung angepasst wird. Vor ihm hatte dies der Chemiker und spätere Wala-Begründer, Rudolf Hauschka (1891–1969), in seiner Substanzlehre unternommen – jedoch mehr in phänomenologisch-qualitativer Hinsicht (vgl. Hauschka [2007]).
- Siehe www.vomwesenderzahlen.org. Georg Glöckler unterschied drei Wesensmerkmale des Mathematischen: einmal das Wesen einer Zahl, sozusagen ihre Individualität, dann ihre Rhythmengestalt und ihren Mengencharakter. Zu seinen Forschungen zur Rhythmengestalt der Zahlen vgl. z.B. „Rekursive Erzeugung der Pythagoräischen Quadrupel nach Georg Glöckler“. Zwölf Dokumente mit Einführungen und Kommentaren von A. Häberlein, zu beziehen: ahaebgmx.de.
- Ebenda.
- Was die empirische Forschung zum Wirksamkeitsnachweis ‚kleinster Entitäten’ anbetrifft, so haben sich seit den Pionierarbeiten von Lili Kolisko (1889–1976) und Alla Selawry (1913–1992) Methodik und Wissen seither deutlich erweitert. Es sei an dieser Stelle auch noch einmal auf die Zeitschrift „Der Merkurstab“ hingewiesen, die zusammen mit ihrer Vorgänger-Zeitschrift Beiträge zu einer Erweiterung der Heilkunst wesentliche Betrachtungen zum anthroposophischen Homöopathie-Verständnis sowie zahlreiche Substanzbetrachtungen beinhaltet. Im Bereich der konventionellen Forschung besteht nicht nur geringes Interesse, die Wirksamkeit homöopathischer Substanzen zu prüfen. Im Gegenteil; es wird sogar aktiv dagegen opponiert, indem gesagt wird, dass es unverantwortlich sei, für derart unwissenschaftliche Forschungsthemen Geld auszugeben.
- Vgl. Lehmann und Baumgartner (2023), S. 352–359. Siehe auch Baars u. a. (2022). Anthroposophische Arzneimittel werden gemäß der guten Herstellungspraxis und den nationalen Arzneimittelvorschriften gefertigt und haben einen ausgezeichneten Sicherheitsstatus; die verfügbaren Belege deuten auf einen klinischen Nutzen hin. 2023 hat Harald Hamre ein systematisches Studien-Review publiziert, das die Überlegenheit homöopathi-scher Arzneimittel gegenüber Placebo signifikant belegt: Siehe Hamre u. a. (2023), S. 191.
- In Band 15 der SKA findet sich auch das umfangreiche Literatur- und Referenzverzeichnis. Wer den Inhalt weiter vertiefen möchte, kann sich dort darüber informieren.